Der Fachkräftemangel erreicht seit Ende der Pandemie neue Rekordwerte. Doch das Problem besteht seit Langem. Firmen und die Politik haben bisher kein Rezept dagegen gefunden. Einige Branchen reagieren mit Kampagnen.
Chronisch ist der Fachkräftemangel bei Informatikern und Ingenieuren, im Gesundheitswesen und in der Baubranche.
Text DANIEL BÜTLER, freischaffender Autor
Zahlreiche Firmen klagen, nicht genug qualifiziertes Personal zu finden. Der Fachkräftemangel lässt sich mit Zahlen belegen: 2022 waren im Jahresdurchschnitt über 120 000 Stellen offen, so viele wie nie zuvor. Die Zahl offener Stellen hat sich innert 20 Jahren verdreifacht. Einen Rekordwert erreichte auch der Fachkräftemangel-Index der Universität Zürich. Innert einem Jahr erhöhte er sich um fast 70 Prozent. Eine solche massive Steigerung ist einmalig.
Expertinnen und Experten sind sich einig: Die Hauptursache dafür ist die wirtschaftliche Erholung nach der Corona-Pandemie. Die Aufhebung der Schutzmassnahmen führte in vielen Branchen gleichzeitig zu einem enormen Bedarf an Arbeitskräften, während sich normalerweise ein Aufschwung über Monate und Jahre aufbaut. Laut dem Staatssekretariat für Wirtschaft (SECO) spielte zudem der Effekt des demografischen Handels. «Personen, die in Pension gingen, wurden während der Pandemie teils noch nicht ersetzt», schreibt das Amt auf Anfrage. Hier bestand also Nachholbedarf. Während der Pandemie sei zudem die Zuwanderung zurückgegangen, sagt Conny Wunsch, Professorin für Arbeitsmarktökonomie an der Universität Basel.
An sich ist der Mangel an qualifizierten Personen in vielen Branchen keine neue Erscheinung. Ein Spezialfall ist die Gastro- und Hotelleriebranche. Hier mussten während der Corona-Pandemie viele Beschäftigte eine Zwangspause einlegen. Ein Teil von ihnen hat sich daraufhin umorientiert und die Branche gewechselt. Für das SECO handelt es sich hier «eher um ein konjunkturelles Phänomen». Doch unattraktive Arbeitszeiten und eine relativ schlechte Entlöhnung machen die Branche für Neueinsteiger uninteressant. Der Verband reagiert nun mit einer Kampagne.
Chronisch ist der Fachkräftemangel bei Informatikern und Ingenieuren, im Gesundheitswesen und in der Baubranche. Jahrzehntelang hat sich die Schweiz darauf verlassen, Arbeitskräfte im Ausland zu rekrutieren. So hat etwa jede dritte Arbeitskraft im Gesundheitswesen ein ausländisches Diplom, in Schweizer Spitälern arbeiten Tausende Grenzgängerinnen und Grenzgänger. Im Bauwesen sind sehr viele Immigranten aus Südeuropa tätig. Und IT-Spezialistinnen und ‑Spezialisten werden international rekrutiert. Doch auch das ist schwieriger geworden. Zahlreiche europäische Länder suchen seit dem Ende der Pandemie ebenfalls händeringend Fachpersonal. Gerade unsere Nachbarländer leiden selber unter einem Fachkräftemangel. Zudem verbessern sich in vielen Ländern die Arbeitsbedingungen und Löhne. Daher nimmt die Emigration in die Schweiz ab.
Für die Zukunft sind die Prognosen kritisch: Laut einer Studie von Angestellte Schweiz ist der aktuelle Fachkräftemangel nur ein Vorgeschmack auf das, was uns in Zukunft erwartet. Bis in drei Jahren werden rund 360 000 qualifizierte Arbeitskräfte fehlen. Und im Jahr 2035 könnten es sogar 1,2 Millionen sein. Diese Zahlen beruhen auf der Differenz zwischen den Personen, die pensioniert werden, und denen, die neu in den Arbeitsmarkt eintreten. «Viele Unternehmen, besonders mittlere und kleinere, haben das Problem noch nicht erkannt und treffen keine entsprechenden Massnahmen», sagt Arbeitsmarktökonomin Conny Wunsch. Sie betont, den Nachwuchs müsse man auf Jahre hinaus planen.
Auch Branchenverbände und der Staat scheinen noch keine ausgereiften Rezepte gefunden zu haben. So ist beispielsweise der Mangel an Fachpersonen in naturwissenschaftlichen Berufen seit Langem bekannt. Ebenso lang steht die Forderung im Raum, Frauen für diese Berufe zu gewinnen. Doch noch immer ist der Frauenanteil in den Bereichen Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften und Technik – den sogenannten MINT-Studienfächern – mit rund einem Fünftel sehr gering. Das liege auch an der konservativen Schweizer Kultur und daran, dass diese Branchen sehr männerlastig seien, findet die Zürcher Soziologieprofessorin Marlis Buchmann.
Zu den Sektoren, die in Zukunft am meisten gefordert sind, gehört die Gesundheitsbranche. Hier führe die Alterung der Bevölkerung zu einem doppelten Problem, sagt Conny Wunsch: «Die Nachfrage nach medizinischen Dienstleistungen steigt, weil es immer mehr alte Leute gibt. Gleichzeitig nimmt die Zahl der Fachkräfte ab, weil viele von ihnen in den nächsten Jahren in Pension gehen.»
Immerhin soll dank der vom Stimmvolk angenommenen Pflegeinitiative beim Pflegepersonal eine Ausbildungsoffensive gestartet werden. Nicht erkannt ist aber laut Wunsch das Problem bei den Ärztinnen und Ärzten: «Offenbar ist der Druck noch nicht gross genug, damit die Zahl der Ausbildungsplätze erhöht wird.» Die These steht im Raum, dass die Schweiz Ausbildungskosten sparen will und das medizinische Fachpersonal lieber im Ausland rekrutiert, als es selber auszubilden. Für die Zukunft dürfte diese Strategie aber nicht aufgehen. Länder wie Deutschland benötigen ihre Medizinerinnen und Mediziner vermehrt für ihr eigenes Gesundheitswesen.
Um den Fachkräftemangel allgemein zu beheben, sollten mehr Frauen und ältere Menschen am Erwerbsleben teilnehmen, fordern Expertinnen und Experten. Hier zeigt der Trend grundsätzlich in die richtige Richtung. Die Arbeitsmarktbeteiligung von älteren Personen – vor allem Frauen – hat über die letzten zehn Jahre zugenommen. Die Schweiz gehört gemäss SECO zu den Ländern mit aus gesprochen hoher Arbeitsmarktbeteiligung bei den 55- bis 64-Jährigen. Dies mag die Klagen relativieren, dass ältere Arbeitnehmende nicht mehr gefragt sind im Arbeitsleben.
Klar ist aber, dass bei der Frauenerwerbsarbeit noch viel Potenzial besteht. «Die Vereinbarkeit von Beruf und Familie muss weiter verbessert werden», sagt Professorin Conny Wunsch. Wichtig seien auch steuerliche Anreize wie etwa die Individualbesteuerung, damit es sich für Doppelverdiener lohne zu arbeiten.
Arbeitsmarktexpertin Marlis Buchmann empfiehlt, die Arbeitsbedingungen zu flexibilisieren, um Frauen und ältere Arbeitskräfte besser einbinden zu können. Um mehr qualifiziertes Personal zur Verfügung zu haben, müsse zudem die Zahl der Menschen mit Tertiärabschlüssen erhöht werden.