Lernmethoden und -strategien gibt es viele. Von den guten alten Karteikarten bis hin zu strukturierenden ABC-Listen, der fantasievollen Loci-Methode oder dem kreativen Mind-Mapping. Doch gibt es die eine, die perfekte Lernmethode? Lutz Jäncke, Lehrstuhlinhaber für Neuropsychologie an der Universität Zürich, erklärt, wie Erwachsene für den Beruf optimal lernen.

Neuropsychologe Prof. Dr. Lutz Jäncke, an der Uni Zürich. (Bild: Joël Hunn / NZZ)

Interview BIANCA BIEGISCH
Foto JOËL HUNN/ NZZ

Wann hatten Sie das letzte Mal Mühe, etwas zu lernen? Und warum?
LUTZ JÄNCKE: Ich habe vorige Woche begonnen, Spanisch zu lernen. Das ist jetzt eines meiner Ziele, weil wir ein Haus auf Mallorca haben. Ich möchte vermeiden, dass die Leute mich in Deutsch ansprechen, was dort noch sehr oft der Fall ist.

Das ist interessant, sobald ich in Zürich bin, bricht mein Spanischlernen irgendwie zusammen. Als ich zwei Wochen auf Mallorca war, da habe ich in zwei Tagen super gelernt. Und ich musste aber ein paar Tage aussetzen, weil ich so viel zu tun hatte.

Ich habe gestern wieder angefangen. Und ich habe festgestellt, dass ich alles wieder vergessen habe. Das ist doch ein klassisches Phänomen, weil wenn man etwas lernt, das man braucht, dann am besten, wenn man gerade in der Situation ist, um dies zu nutzen. So ist erstens die Motivation höher, und zweitens sind die ganzen Reize im Umfeld, die für das Sprachlernen wichtig sind, vorhanden.

Zudem ist mein ganzes neuronales Netz, das die ganzen Informationen abspeichert, auf Spanisch eingestellt, das heisst, ich habe ein spanisches Netzwerk, das bereit ist, die Informationen aufzunehmen. Seitdem ich wieder hier bin, habe ich das deutsche Netzwerk wieder hochgefahren.

Gibt es eigentlich die perfekte Lernmethode?
Es gibt nicht die perfekte Methode, sondern es gibt verschiedene Strategien, wie man möglichst elegant lernen kann. Diese Strategien haben gewisse allgemeine Grundzüge, aber sie sind immer abhängig vom individuellen Gehirn sozusagen, also von der Person. Welches Wissen sie hat, welches Hintergrundwissen sie hat, aber auch welche Fähigkeiten.

Ich habe unfassbare Schwierigkeiten, mir PIN-Nummern zu merken. Meine Frau lacht sich immer kaputt. Sie sagt dann: «Du behältst so unfassbar viel, du hast ein unfassbares Gedächtnis für alles Mögliche, du behältst die wildesten Zitate. Du kannst dir ja wirklich alles in deinem Fachgebiet merken, aber so eine blöde PIN-Nummer, die vergisst du ständig.» Aber da kommen wir gleich drauf zu sprechen, das ist interessant zu erklären.

Wie kann man das denn erklären?
Ich habe mir ein Netzwerk aufgebaut, das für mich sehr wichtig ist: mein allgemeines Wissen und mein Fachwissen. Wie das Verhalten des Menschen funktioniert, wie sein Hirn funktioniert. Wie der Mensch funktioniert.
Ich sauge quasi alles, was ich an Informationen zum Thema finden kann, auf. Alles, was ich an Literatur lesen kann. Das wird alles perfekt einsortiert in das bereits bestehende Wissensnetzwerk. Ich stelle mir das so vor: Dieses spezifische Wissen, das ich angehäuft habe, ist wie ein Fischernetz. Und dieses Fischernetz ist ganz eng verwoben. Das heisst, ich habe sehr viele differenzierte Informationen, die alle miteinander zusammenhängen, über den Menschen und sein Verhalten in meinem Hirn abgespeichert.

Und wenn etwas Neues hinzukommt, dann bleibt das einfach daran haften. Weil das Netz einfach so viele Möglichkeiten bietet, und neue Informationen dieses speziellen Gebiets können gut andocken.

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«Wir lernen das, was wir individuell als sinnhaft empfinden.»

Lutz Jäncke, Neuropsychologe

Gibt es heutzutage noch Standards zum Lernen? Und wie haben die sich entwickelt?
Einige Grundregeln sind vorhanden, die sehr wichtig sind. Das, was man lernen will, das muss man auch wiederholt aufnehmen. Wiederholen ist die Mutter des Lernens. Das ist schlichtweg normal. Der Hintergrund ist einfach, wenn wir gleichzeitig ein Gedächtnis aufbauen, wo ein Netzwerk aufgebaut werden muss, laufen diverse biochemische Prozesse ab. Das ist der eine Punkt.

Der zweite Punkt ist, dass wir das besonders gut abspeichern, was wir beim Lernen an bereits bestehendes Wissen anbinden. Man könnte das auch als Verstehen bezeichnen. Das heisst, wir lernen nicht am besten immer auswendig. Sondern wir lernen am besten, indem wir das, was wir lernen, am bestehenden Wissen anbinden und etwas damit machen. Das nennt man auch elaboriertes Lernen.

Der dritte Punkt ist, wenn wir lernen, müssen wir dem Lernmaterial ein gewisses Mass an Aufmerksamkeit zuwenden. Dieses «By-the-way»-Lernen, das funktioniert nur in bestimmten Bereichen und hat nur eine sehr beschränkte Kraft. Wenn wir wirklich etwas Neues erwerben wollen, müssen wir uns dem eben auch zuwenden. Wir müssen also unsere Aufmerksamkeit, unseren «Spotlight of Attention», dem Lernstoff zuwenden und störende Reize so weit wie möglich beim Lernen unterdrücken. Damit wir die Information auch präferiert und effizient in unsere Gedächtnisnetzwerke aufnehmen.

Der vierte Punkt: Wir lernen das am besten, wofür wir einen individuellen Sinn entwickeln. Also wir lernen das, was wir individuell als sinnhaft empfinden. Ich betone das Individuelle, denn man sagt ja, dass man das Sinnvolle behalten solle. Aber was ist sinnvoll? Das ist sehr unterschiedlich. Zu beobachten ist dies oft bei Kindern in der Schule, die den Sinn dessen, was sie da zu lernen haben, gar nicht erkennen, weil es meistens Unterrichtsinhalte sind, die von Eltern, von Lehrern, von Erwachsenen definiert und konzipiert worden sind. Informationen, die sie persönlich sehr interessant finden, lernen sie plötzlich viel schneller, wie beispielsweise Pokémon-Karten oder Fussball-Ergebnisse. Das fühlt sich natürlich alles viel spannender an. Die Kinder sehen die Bedeutung der Wertigkeit.

Wie hat sich das Lernen jetzt mit der Digitalisierung, beispielsweise mit Apps und Google, verändert?
Klar ist, wenn Sie die These von mir, «Wiederholen ist die Mutter des Lernens», ernst nehmen – und man sollte sie ernst nehmen –, dann bedeutet das, dass wir viele Lerninhalte gar nicht mehr unserem Gedächtnis zuführen, weil wir ständig auf unsere Apps schauen. Das heisst, wir nutzen unsere Apps als zweites Gedächtnis.

Das fängt bei der Navigation im Auto an. Wer lernt schon heutzutage eine Route auswendig, die man mit dem Auto fährt? Wer ist noch in der Lage, so viele Informationen über Alltagskonstellationen im Gedächtnis zu speichern? Wir versuchen in jeder Konstellation unseres Lebens, Google zu befragen. Wann brauche ich also auf Hintergrundinformationen zurückzugreifen? Also, unser Gedächtnis wird extrem stark entlastet, könnte man jetzt positiv formulieren. Durch die «digitalen Speicher». Wir nutzen unser Gedächtnis nicht mehr so häufig. Demzufolge trainieren wir es auch nicht mehr.

Wir werden ja bombardiert mit Informationen, die alle sehr interessant sind. Dabei fällt es uns schwer, uns zu konzentrieren. Zum Beispiel auch, wenn wir neue Informationen aufnehmen. Das heisst, wenn Sie jetzt beispielsweise morgens früh am Kaffeetisch sitzen und Ihr Tablet einschalten, um digital die Zeitung zu lesen. Dann wird das sicherlich nicht so gemacht wie früher – früher hat man eine gedruckte Zeitung gelesen –, heute scrollt man durch alles Mögliche durch und lässt sich im Wesentlichen durch Headlines leiten. Wir werden verleitet, durch die Masse von Informationen, die wir angeboten bekommen, auf die Headlines zu achten.

Mit den aktuellen Übersetzungs-Apps wird es für uns Menschen zunehmend unattraktiver, Fremdsprachen zu lernen. Das scheint in der Schweiz noch so ein bisschen merkwürdig, denn wir sind es ja gewohnt, mit mehreren Sprachen umzugehen. Aber betrachten Sie nur mal die Briten und die Amerikaner, die weigern sich wie der Teufel das Weihwasser, eine Fremdsprache zu lernen. Das heisst, in Zukunft wird also die Anzahl der Menschen, die mehrere Sprachen sprechen, deutlich abnehmen, weil diese Apps immer besser werden. Das wird natürlich das Lernen einer Fremdsprache deutlich unattraktiver machen, und das bedeutet, unser Gedächtnis wird darunter leiden. Sprache abzuspeichern, ist eben eine Gedächtnisleistung. Somit sehe ich für unser Gedächtnis diesbezüglich eigentlich keine rosige Zukunft.

«Wir haben zu viele Informationen, die unser Gehirn überfordern.»

Lutz Jäncke, Neuropsychologe

Also, aktives Lernen ist umso wichtiger. Wenn Sie ja sagen, das digitale Wissen, das kann man ja mal eben googeln, oder man hat ja sein Navi. Wäre es somit nicht umso wichtiger, dass wir uns aktiv aufmerksam mit neuen Informationen auseinandersetzen?

Das ist genau meine These. Ich finde, wir müssten in der Zukunft, aber auch in der Gegenwart mehr Aufmerksamkeit, mehr Selbstdisziplin beim Abruf der Informationen aus dem Internet nutzen. Um sie auch wirklich besser zu verarbeiten. Dummerweise tun die meisten Menschen das nicht. Das liegt einfach daran, dass wir bequem sind. Wir greifen Informationen auf und verarbeiten sie am liebsten ohne grosse Mühe.

Wenn Sie elaborierte Informationen aufnehmen wollen, müssen Sie sich damit auseinandersetzen. Wir nehmen die Informationen viel zu häufig hin, wir konsumieren sie. So wie das sogenannte Bulimie-Lernen: Wir konsumieren den Stoff, aber wir verinnerlichen ihn nicht. Das ist, finde ich, gefährlich. Dies können wir nur verhindern, indem wir uns zwingen, diese Informationen dezidierter aufzunehmen.

Könnten Sie das noch erklären, inwiefern jetzt der digitale Medienkonsum die Lernfähigkeit und Konzentrationsfähigkeit beeinflusst?

Unser Gehirn ist ein Organ, das eine beschränkte oder begrenzte Kapazität im Hinblick auf Informationsaufnahme hat. Wir wissen, wenn man das in Bit oder Byte ausdrückt, dass pro Sekunde 11 Millionen Bit/Byte auf unser Sensorium prasseln. Davon können wir 11 bis 60 Bit pro Sekunde bewusst wahrnehmen. Das heisst, wir sind, um bewusste Wahrnehmungen durchzuführen, sowieso gezwungen, aus der Menge der Informationen, die auf uns einprasseln, einen Teil zu filtern und weiterzuverarbeiten. Das ist, so könnte man sagen, ein Naturgesetz. Der Punkt ist aber: Wir müssen selektionieren. Das ist genau der essenzielle Aspekt bei der ganzen Geschichte. Und die digitalen Medien oder die Internetwelt sind ja eine Welt, die uns unfassbar viele Sachen anbietet. Das ist so, als wenn Sie beispielsweise in einen Supermarkt gehen, und Sie wollen einkaufen und sehen zwanzig verschiedene Sorten von Milch. Wenn Sie dann damit nicht umgehen können, sind Sie überfordert. Gucken die ganze Menge der ganzen Sorten an und wissen gar nicht: Was nehme ich jetzt?

Das ist das Hauptproblem: Wir haben zu viele Informationen, die unser Gehirn überfordern. Wir werden auch immer wieder abgelenkt, weil überall etwas Interessantes wartet. Und wir müssen Kräfte entwickeln, um uns gegen die ablenkenden Reize zu wehren, um uns auf das Wesentliche zu fokussieren. Das ist nicht einfach.

Wie kann man sich am besten Dinge einprägen? Hört oder sieht man sich am besten etwas an? Oder ist aufschreiben besser?

Man lernt am besten, wenn man die Informationen an bereits bestehende Informationen anbindet und mit diesen Informationen etwas macht. Die Auseinandersetzung mit der Information ist wichtig.

Bestimmte Strategien dieser Form des Lernens kann man sich aufzwingen, indem man sich erst mal fokussiert auf die Informationen, sie beim Lernen auch an bestimmte Sachen anbindet, indem zum Beispiel Assoziationen gebildet werden. Wie sieht das aus, was ich zu lernen habe? Wo kommt das her? Damit man mehrere Bilder im Kopf hat. Hilfreich kann das Aufschreiben des Lernstoffs sein, wie eine Vokabel zum Beispiel. Das dauert eine gewisse Zeit, man hat dann visuelle Informationen und koppelt die mit der Motorik. Das sind alles wichtige Dinge. Man nimmt sich Zeit dafür und konzentriert sich in dem Moment darauf, auf den neuen Reiz, und bindet den an das anderweitig Gespeicherte in einem grossen Netzwerk an.

Wir müssen mit dem Gelernten etwas machen, zum Beispiel in eigenen Worten das Gelernte wiedergeben. Wenn Sie zum Beispiel neue Vokabeln lernen, müssen Sie eine neue Geschichte daraus kreieren. Diese Geschichte müssen Sie verbal wiedergeben oder mit diesen Vokabeln Geschichten schreiben.

Wie ist es denn möglich, Lernstoff nachhaltig im Gedächtnis zu behalten?

Etwas sein Leben lang zu behalten und es nicht zu vergessen, ist ausserordentlich schwierig. Vergessen ist möglicherweise sogar wichtiger als behalten. Das mag Sie jetzt irritieren, wenn ich dies als Neuropsychologe sage. Aber unser Gehirn darf nicht alles lernen, es muss einfach nur die wichtigen Inhalte lernen. Doch wer definiert, was wichtig ist? Und biologisch gesehen ist das wichtig, was für unser Überleben in der speziellen sozialen und kulturellen Umgebung, in der wir leben, relevant ist. Wenn Sie also ein Fussballtrainer sind, ist es wichtig, dass Sie all das Zeug lernen, das für einen Fussballtrainer wichtig ist. Wenn Sie Wissenschaftler sind, dann müssen Sie das wissen, was für diesen Job relevant ist. Dann ist zum Beispiel eine PIN-Nummer unwichtig. Sie müssen die Wissenschaftsinformationen lernen.

Ein Homo sapiens, der vor 40 000 Jahren in der Steppe von Afrika gelebt hat, musste lernen, dass zu einer bestimmten Stellung des Mondes und der Sonne eine bestimmte Tageszeit vorliegt, wo die grosse Gefahr besteht, dass die Löwen auch an die Wasserstelle kommen. Der musste sowas lernen, das war für ihn einfach relevant.

Wir lernen das, was für uns individuell in unserem Lebenskontext wichtig ist. Das, was für uns wichtig ist, erscheint häufig und hat für uns eine besondere Lebensrelevanz. Genau das lernt unser Gehirn besonders gut. Unwichtige Informationen erscheinen selten und haben keine besondere Lebensrelevanz. Die lernen wir deshalb auch nicht besonders gut. Was häufig auftritt und relevant ist, lernen wir gut. Deswegen ist das Wiederholen ein effizientes Lernprinzip. Wir vergessen die Informationen, die wir nicht wiederholen, relativ schnell. Wenn Sie beispielsweise eine Sprache lernen, die Sie nach ungefähr fünf Jahren nicht mehr benutzen, werden Sie sehr viel von dieser Sprache wieder verlernen.

Demzufolge ist es eine Mär zu glauben, man würde sein Leben lang alles behalten, wenn man es einmal gelernt habe. Man behält es nur dann, wenn man es immer wieder benutzt. Man kann sogar seine Muttersprache verlernen. Sie können die sogar komplett aus dem Gehirn löschen. Untersuchungen zeigen, dass die Muttersprache aus dem Gehirn gelöscht werden kann.

Was mache ich, wenn ich mir das bewusste, elaborierte Lernen gar nicht angeeignet habe, eben zum Beispiel als Schüler? Als Beispiel das schnelle, kurzfristige Lernen, das sogenannte Bulimie-Lernen für eine Prüfung. Doch danach ist der Lernstoff mehrheitlich wieder vergessen. Angenommen, ich habe diese Lernstrategie bis ins Erwachsenenalter angewendet. Wie kann ich lernen, nachhaltiger zu lernen?

Im Grunde genommen ist der Erwerb einer Lernstrategie in jedem Lebensalter und jeder Lebensperiode möglich. Wenn Sie in der Schule bestimmte Lernstrategien erworben haben, dann haben sich diese verfestigt. Es kann durchaus sein, dass Sie noch keine Kenntnis davon haben, wie man richtig lernt. Oder Sie denken: Das geht doch nicht? Aber wenn Sie das Menschen mit Mühe nahebringen und sie auch trainieren, eine Strategie anzuwenden, dann werden diese das auch anwenden können. Also, Schulkinder sind meines Erachtens noch viel einfacher in den Griff zu bekommen als ältere Menschen. Es existieren eine Reihe von Untersuchungen bei älteren Menschen, die gezeigt haben, dass sie diese elaborierten Lernformen gar nicht mehr beherrschen, weil sie das im Leben selten oder nie genutzt haben. Weil es in der Regel für sie auch gar nicht mehr so wichtig war, da sie nicht mehr in der Schule sind und ihre Arbeit perfekt beherrschen. Beobachtungen zeigen, dass man selbst diesen Leuten relativ schnell, in wenigen Stunden diese Technik des elaborierten Lernens beibringen kann. Und warum soll man das den Kindern nicht beibringen? Das Problem bei den Kindern ist oft nur, dass sie oft gar keine Lust dazu haben und manchmal in der Schule zeitlich überfordert sind. Das liegt oft daran, dass sie zu viel Stoff haben, den sie verarbeiten müssen. Da bleibt ihnen nicht die Zeit, die Informationen vertieft abzuspeichern. Somit versuchen sie, so schnell wie möglich sich das Zeug reinzuprügeln, um die Prüfung zu bestehen, weil sie wissen: Nach dieser Prüfung muss ich mich wieder mit dem neuen, nächsten Stoff auseinandersetzen, den sie wieder in sich reinprügeln. Das führt dann eben zum Bulimie-Lernen: Sie lernen, machen die Prüfungen, und danach haben sie wieder fast alles vergessen.

Etwas bleibt zwar immer hängen. Aber das ist ein Bruchteil, vielleicht zehn Prozent des Lernstoffs.

Gibt es denn hilfreiche Konzentrationsübungen, die man anwenden kann und die beim Lernen helfen? Sodass man sich wirklich aufmerksam mit dem Stoff auseinandersetzen kann?

Für gesunde Menschen, die nicht unter neurologischen Schäden leiden, empfehle ich, sich in bestimmten Perioden oder Zeiträumen schlichtweg auf bestimmte Sachen zu konzentrieren. Wenn also beispielsweise ein Erwachsener seine Konzentrationsfähigkeit trainieren will und er weiss, dass er das noch nicht gut kann, würde ich ihm zum Beispiel Folgendes empfehlen: Nimm dir jetzt eine Uhr, stelle sie vor deinen Computer oder auf den Tisch und mache mal 15 Minuten nichts anderes, als dich mit einem Text zu beschäftigen.

Setz dir Kopfhörer auf, lies den Text ganz konzentriert. Du guckst nicht hoch, nicht runter, nicht zur Seite – und machst in diesen 15 Minuten nichts anderes. Und dann musst du den Inhalt des Texts gleich wiedergeben und die wichtigsten Wörter herausschreiben. Dann überprüft man, ob das Niedergeschriebene mit dem Lernstoff übereinstimmt. Pausen sind dabei wichtig. Aber diesen Lern- und Überprüfungsprozess muss man mehrfach wiederholen.

Also Sie repetieren eine psychologische Funktion, indem Sie sie wiederholt durchführen. Und noch kontrollieren. Das ist der Trick. Diese Methode empfehle ich für Kinder und für Erwachsene. Das hört sich jetzt relativ einfach an. Machen Sie aber mal 15 Minuten etwas, ohne sich von irgendetwas anderem ablenken zu lassen. Das ist schwierig.

«Vergessen ist möglicherweise sogar wichtiger als behalten.»

Lutz Jäncke, Neuropsychologe

Das ist schwierig, gerade jetzt im digitalen Zeitalter?
Genau. Hinzu kommt noch ein weiterer Punkt, bevor man mit so einem Training beginnt. Ich würde eine sogenannte Stimulus-Kontrolle einführen. Stimulus-Kontrolle bedeutet, dass man potenzielle ablenkende Informationen ausschaltet. Das heisst, Sie gehen an einen Ort, wo Sie wenig störende Reize um sich haben. Im Fall der digitalen Ablenkung schalten Sie das Internet beispielsweise aus und gestalten Ihren Arbeitsplatz so, dass er möglichst wenig Ablenkungen bietet.

Also: Wie komme ich zum Anfang, dass ich mich für 15 Minuten hinsetze? Kennen Sie da einen Trick, eine Methode, um sich zu überwinden?
Das ist wie bei den Schriftstellern, exakt die gleiche Geschichte. Aber wissen Sie, diese Blockaden können Sie nur überwinden, wenn Sie irgendwas tun. Sie können eine Mauer nur überwinden, wenn Sie anfangen zu klettern. Oder wenn Sie eine Hacke nehmen und ein Loch reinhauen. Wenn man so ein Lerntraining durchführen will, dann fängt man erst mal an und baut alles so auf, wie man es gerne hätte. Sie beginnen also mit der genannten Stimulus-Kontrolle, suchen sich die Themen aus, Artikel oder Texte, die Sie lesen wollen. Aber Sie müssen es machen! Manche Leute denken immer, das sei schwierig. Nein, Sie müssen das machen und müssen erst mal leicht anfangen. Bei den Schriftstellern ist es oftmals so: Die setzen sich hin und fangen erst mal an zu schreiben. Damit sie erst mal in diesen Konzentrationsmodus reinkommen.

Was würden Sie einem Erwachsenen raten, der beispielsweise über 50 ist und der eine Weiterbildung angehen muss, die für seine berufliche Laufbahn wichtig ist oder um einen neuen Job zu finden? Was kann diese Person unternehmen, wenn sie einerseits noch das klassische Lernen von der Schule verinnerlicht hat und sie andererseits das Weiterbildungsthema nicht wirklich interessiert?
Das ist eine Frage der Motivation. Da gibt es eigentlich nur eine Strategie: Love it, leave it or change it. Das heisst, es gibt nur die Möglichkeit zu schauen, ob ich in dem neuen Berufsfeld, das ich mir lerntechnisch erobern muss, ob ich hier «love it» oder «change it» nutzen kann. Ich muss ein Commitment haben, ich muss eine Verantwortung für den Job entwickeln – und das muss man genau überprüfen.

Wir sind für alles, was wir tun, verantwortlich. Wenn Sie einen Job gefunden haben und Sie Geld verdienen müssen, um Ihr Leben zu gestalten, dann müssen Sie für den Job eine Verantwortung übernehmen. Ein Commitment. So, das ist die erste Voraussetzung. Sie müssen lernen, es zu lieben. Oder wenn Sie es nicht hundertprozentig geben können, kleine Veränderungen vornehmen. Und Sie müssen dabeibleiben. Das ist wie bei einer Ehe. Sie lieben Ihren Ehemann, obwohl er seine Zahnpasta jeden Morgen offen rumliegen lässt. Trotzdem lieben Sie ihn. Die Socken liegen da auch rum. Doch Sie sehen das gar nicht, das ist Ihnen egal. So, und das ist eine Grundvoraussetzung. Das mag Sie jetzt verwundern, wenn ich das so betone, aber selbst für Berufszweige, die zunächst mal langweilig erscheinen, müssen wir ein Commitment entwickeln. Anders geht es nicht.

Wenn Sie also ein Commitment haben und die Verantwortung übernehmen, in dem Beruf erfolgreich zu sein, weil Sie es müssen, müssen Sie sich Ziele setzen. Und wenn Sie sich Ziele setzen, müssen Sie überprüfen, ob Sie die Ziele erreichen. Was passiert dann? Dopamin – Reward –, also Belohnung, Lust. Plus Stolz. Wir denken oft in unserer Wohlstandsgesellschaft, dass man im Schlaraffenland lebt. Sodass sich, überspitzt gesagt, alle drei Minuten der Job so ändert, dass wir glücklich sind. Das ist eine falsche Interpretation. Ich habe den schönsten Job der Welt meines Erachtens, aber ich musste im Rahmen meines Berufs auch schon so viel Blödsinn machen. Ich würde sogar sagen, 70 Prozent meines Jobs haben mit blöden Sachen zu tun gehabt, die ich gar nicht angestrebt habe. Aber es gehört nach wie vor dazu, und das muss man dann mitmachen. Sie müssen ein Commitment entwickeln für Ihren Job. Daraus leitet sich die Motivation ab. Die besteht aus dem Setzen von Zielen, die mittelschwer sind optimalerweise. Wenn Sie diese erreichen, sind Sie stolz.

Schlussendlich geht es beim Lernen auch um den Stolz: die Freude und die Belohnung, etwas erreicht zu haben.

Neuropsychologe Prof. Dr. Lutz Jäncke, fotografiert in der Uni Zürich in Oerlikon. (Bild: Joël Hunn / NZZ)

Neuropsychologe Prof. Dr. Lutz Jäncke. (Bild: Joël Hunn / NZZ)

Zur Person

Lutz Jäncke ist emeritierter Professor für Neuropsychologie an der Universität Zürich. In seiner Forschung hat er sich speziell der Plastizität des menschlichen Gehirns gewidmet. Dabei haben ihn insbesondere die Individualität und die Lernfähigkeit des Menschen fasziniert. Er ist Autor zahlreicher Bücher, die sich mit der Funktionsweise des Gehirns beschäftigen. Seine Publikationen gehören gemäss dem «Essential Science Indicator» zum einen Prozent der am häufigsten zitierten wissenschaftlichen Arbeiten.

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