Also, aktives Lernen ist umso wichtiger. Wenn Sie ja sagen, das digitale Wissen, das kann man ja mal eben googeln, oder man hat ja sein Navi. Wäre es somit nicht umso wichtiger, dass wir uns aktiv aufmerksam mit neuen Informationen auseinandersetzen?
Das ist genau meine These. Ich finde, wir müssten in der Zukunft, aber auch in der Gegenwart mehr Aufmerksamkeit, mehr Selbstdisziplin beim Abruf der Informationen aus dem Internet nutzen. Um sie auch wirklich besser zu verarbeiten. Dummerweise tun die meisten Menschen das nicht. Das liegt einfach daran, dass wir bequem sind. Wir greifen Informationen auf und verarbeiten sie am liebsten ohne grosse Mühe.
Wenn Sie elaborierte Informationen aufnehmen wollen, müssen Sie sich damit auseinandersetzen. Wir nehmen die Informationen viel zu häufig hin, wir konsumieren sie. So wie das sogenannte Bulimie-Lernen: Wir konsumieren den Stoff, aber wir verinnerlichen ihn nicht. Das ist, finde ich, gefährlich. Dies können wir nur verhindern, indem wir uns zwingen, diese Informationen dezidierter aufzunehmen.
Könnten Sie das noch erklären, inwiefern jetzt der digitale Medienkonsum die Lernfähigkeit und Konzentrationsfähigkeit beeinflusst?
Unser Gehirn ist ein Organ, das eine beschränkte oder begrenzte Kapazität im Hinblick auf Informationsaufnahme hat. Wir wissen, wenn man das in Bit oder Byte ausdrückt, dass pro Sekunde 11 Millionen Bit/Byte auf unser Sensorium prasseln. Davon können wir 11 bis 60 Bit pro Sekunde bewusst wahrnehmen. Das heisst, wir sind, um bewusste Wahrnehmungen durchzuführen, sowieso gezwungen, aus der Menge der Informationen, die auf uns einprasseln, einen Teil zu filtern und weiterzuverarbeiten. Das ist, so könnte man sagen, ein Naturgesetz. Der Punkt ist aber: Wir müssen selektionieren. Das ist genau der essenzielle Aspekt bei der ganzen Geschichte. Und die digitalen Medien oder die Internetwelt sind ja eine Welt, die uns unfassbar viele Sachen anbietet. Das ist so, als wenn Sie beispielsweise in einen Supermarkt gehen, und Sie wollen einkaufen und sehen zwanzig verschiedene Sorten von Milch. Wenn Sie dann damit nicht umgehen können, sind Sie überfordert. Gucken die ganze Menge der ganzen Sorten an und wissen gar nicht: Was nehme ich jetzt?
Das ist das Hauptproblem: Wir haben zu viele Informationen, die unser Gehirn überfordern. Wir werden auch immer wieder abgelenkt, weil überall etwas Interessantes wartet. Und wir müssen Kräfte entwickeln, um uns gegen die ablenkenden Reize zu wehren, um uns auf das Wesentliche zu fokussieren. Das ist nicht einfach.
Wie kann man sich am besten Dinge einprägen? Hört oder sieht man sich am besten etwas an? Oder ist aufschreiben besser?
Man lernt am besten, wenn man die Informationen an bereits bestehende Informationen anbindet und mit diesen Informationen etwas macht. Die Auseinandersetzung mit der Information ist wichtig.
Bestimmte Strategien dieser Form des Lernens kann man sich aufzwingen, indem man sich erst mal fokussiert auf die Informationen, sie beim Lernen auch an bestimmte Sachen anbindet, indem zum Beispiel Assoziationen gebildet werden. Wie sieht das aus, was ich zu lernen habe? Wo kommt das her? Damit man mehrere Bilder im Kopf hat. Hilfreich kann das Aufschreiben des Lernstoffs sein, wie eine Vokabel zum Beispiel. Das dauert eine gewisse Zeit, man hat dann visuelle Informationen und koppelt die mit der Motorik. Das sind alles wichtige Dinge. Man nimmt sich Zeit dafür und konzentriert sich in dem Moment darauf, auf den neuen Reiz, und bindet den an das anderweitig Gespeicherte in einem grossen Netzwerk an.
Wir müssen mit dem Gelernten etwas machen, zum Beispiel in eigenen Worten das Gelernte wiedergeben. Wenn Sie zum Beispiel neue Vokabeln lernen, müssen Sie eine neue Geschichte daraus kreieren. Diese Geschichte müssen Sie verbal wiedergeben oder mit diesen Vokabeln Geschichten schreiben.
Wie ist es denn möglich, Lernstoff nachhaltig im Gedächtnis zu behalten?
Etwas sein Leben lang zu behalten und es nicht zu vergessen, ist ausserordentlich schwierig. Vergessen ist möglicherweise sogar wichtiger als behalten. Das mag Sie jetzt irritieren, wenn ich dies als Neuropsychologe sage. Aber unser Gehirn darf nicht alles lernen, es muss einfach nur die wichtigen Inhalte lernen. Doch wer definiert, was wichtig ist? Und biologisch gesehen ist das wichtig, was für unser Überleben in der speziellen sozialen und kulturellen Umgebung, in der wir leben, relevant ist. Wenn Sie also ein Fussballtrainer sind, ist es wichtig, dass Sie all das Zeug lernen, das für einen Fussballtrainer wichtig ist. Wenn Sie Wissenschaftler sind, dann müssen Sie das wissen, was für diesen Job relevant ist. Dann ist zum Beispiel eine PIN-Nummer unwichtig. Sie müssen die Wissenschaftsinformationen lernen.
Ein Homo sapiens, der vor 40 000 Jahren in der Steppe von Afrika gelebt hat, musste lernen, dass zu einer bestimmten Stellung des Mondes und der Sonne eine bestimmte Tageszeit vorliegt, wo die grosse Gefahr besteht, dass die Löwen auch an die Wasserstelle kommen. Der musste sowas lernen, das war für ihn einfach relevant.
Wir lernen das, was für uns individuell in unserem Lebenskontext wichtig ist. Das, was für uns wichtig ist, erscheint häufig und hat für uns eine besondere Lebensrelevanz. Genau das lernt unser Gehirn besonders gut. Unwichtige Informationen erscheinen selten und haben keine besondere Lebensrelevanz. Die lernen wir deshalb auch nicht besonders gut. Was häufig auftritt und relevant ist, lernen wir gut. Deswegen ist das Wiederholen ein effizientes Lernprinzip. Wir vergessen die Informationen, die wir nicht wiederholen, relativ schnell. Wenn Sie beispielsweise eine Sprache lernen, die Sie nach ungefähr fünf Jahren nicht mehr benutzen, werden Sie sehr viel von dieser Sprache wieder verlernen.
Demzufolge ist es eine Mär zu glauben, man würde sein Leben lang alles behalten, wenn man es einmal gelernt habe. Man behält es nur dann, wenn man es immer wieder benutzt. Man kann sogar seine Muttersprache verlernen. Sie können die sogar komplett aus dem Gehirn löschen. Untersuchungen zeigen, dass die Muttersprache aus dem Gehirn gelöscht werden kann.
Was mache ich, wenn ich mir das bewusste, elaborierte Lernen gar nicht angeeignet habe, eben zum Beispiel als Schüler? Als Beispiel das schnelle, kurzfristige Lernen, das sogenannte Bulimie-Lernen für eine Prüfung. Doch danach ist der Lernstoff mehrheitlich wieder vergessen. Angenommen, ich habe diese Lernstrategie bis ins Erwachsenenalter angewendet. Wie kann ich lernen, nachhaltiger zu lernen?
Im Grunde genommen ist der Erwerb einer Lernstrategie in jedem Lebensalter und jeder Lebensperiode möglich. Wenn Sie in der Schule bestimmte Lernstrategien erworben haben, dann haben sich diese verfestigt. Es kann durchaus sein, dass Sie noch keine Kenntnis davon haben, wie man richtig lernt. Oder Sie denken: Das geht doch nicht? Aber wenn Sie das Menschen mit Mühe nahebringen und sie auch trainieren, eine Strategie anzuwenden, dann werden diese das auch anwenden können. Also, Schulkinder sind meines Erachtens noch viel einfacher in den Griff zu bekommen als ältere Menschen. Es existieren eine Reihe von Untersuchungen bei älteren Menschen, die gezeigt haben, dass sie diese elaborierten Lernformen gar nicht mehr beherrschen, weil sie das im Leben selten oder nie genutzt haben. Weil es in der Regel für sie auch gar nicht mehr so wichtig war, da sie nicht mehr in der Schule sind und ihre Arbeit perfekt beherrschen. Beobachtungen zeigen, dass man selbst diesen Leuten relativ schnell, in wenigen Stunden diese Technik des elaborierten Lernens beibringen kann. Und warum soll man das den Kindern nicht beibringen? Das Problem bei den Kindern ist oft nur, dass sie oft gar keine Lust dazu haben und manchmal in der Schule zeitlich überfordert sind. Das liegt oft daran, dass sie zu viel Stoff haben, den sie verarbeiten müssen. Da bleibt ihnen nicht die Zeit, die Informationen vertieft abzuspeichern. Somit versuchen sie, so schnell wie möglich sich das Zeug reinzuprügeln, um die Prüfung zu bestehen, weil sie wissen: Nach dieser Prüfung muss ich mich wieder mit dem neuen, nächsten Stoff auseinandersetzen, den sie wieder in sich reinprügeln. Das führt dann eben zum Bulimie-Lernen: Sie lernen, machen die Prüfungen, und danach haben sie wieder fast alles vergessen.
Etwas bleibt zwar immer hängen. Aber das ist ein Bruchteil, vielleicht zehn Prozent des Lernstoffs.
Gibt es denn hilfreiche Konzentrationsübungen, die man anwenden kann und die beim Lernen helfen? Sodass man sich wirklich aufmerksam mit dem Stoff auseinandersetzen kann?
Für gesunde Menschen, die nicht unter neurologischen Schäden leiden, empfehle ich, sich in bestimmten Perioden oder Zeiträumen schlichtweg auf bestimmte Sachen zu konzentrieren. Wenn also beispielsweise ein Erwachsener seine Konzentrationsfähigkeit trainieren will und er weiss, dass er das noch nicht gut kann, würde ich ihm zum Beispiel Folgendes empfehlen: Nimm dir jetzt eine Uhr, stelle sie vor deinen Computer oder auf den Tisch und mache mal 15 Minuten nichts anderes, als dich mit einem Text zu beschäftigen.
Setz dir Kopfhörer auf, lies den Text ganz konzentriert. Du guckst nicht hoch, nicht runter, nicht zur Seite – und machst in diesen 15 Minuten nichts anderes. Und dann musst du den Inhalt des Texts gleich wiedergeben und die wichtigsten Wörter herausschreiben. Dann überprüft man, ob das Niedergeschriebene mit dem Lernstoff übereinstimmt. Pausen sind dabei wichtig. Aber diesen Lern- und Überprüfungsprozess muss man mehrfach wiederholen.
Also Sie repetieren eine psychologische Funktion, indem Sie sie wiederholt durchführen. Und noch kontrollieren. Das ist der Trick. Diese Methode empfehle ich für Kinder und für Erwachsene. Das hört sich jetzt relativ einfach an. Machen Sie aber mal 15 Minuten etwas, ohne sich von irgendetwas anderem ablenken zu lassen. Das ist schwierig.