Die Soziologieprofessorin Marlis Buchmann ist Expertin für Arbeitsmarktforschung und erklärt, warum in der Schweiz so wenige Frauen technische Berufe wählen. Und weshalb mehr Flexibilität bei der Arbeit helfen würde, das Fachkräfteproblem zu entschärfen.
Verschiedene Branchen könnten mit Frauen den Fachkräftemangel verringern.
Interview DANIEL BÜTLER, freischaffender Autor
Der Fachkräftemangel-Index ist auf einem neuen Höchststand. Was sind die Gründe dafür?
MARLIS BUCHMANN: Nachdem der Index schon in den letzten Jahren hoch war, sind nun verschiedene Faktoren für den Höchststand verantwortlich. Der erste ist, dass sich der Fachkräftemangel in der Pandemie abschwächte. Jetzt besteht Nachholbedarf. Zweitens gab es Probleme mit dem Nachschub; nun möchten die Unternehmen nicht mehr so stark abhängig sein von langen Lieferketten und investieren vermehrt wieder hier. Dafür brauchen sie neues Personal. Drittens ist der Fachkräftemangel ein Problem in vielen industrialisierten Ländern. Die Schweiz hat immer viele Arbeitskräfte im Ausland rekrutiert, doch
das ist schwieriger geworden. Die internationale Konkurrenz hat zugenommen. Eine Rolle spielt auch der demografische Wandel. Die starken Jahrgänge der Babyboomer kommen ins Pensionsalter, und schwächere Jahrgänge rücken nach.
Laut einer neuen Studie machen KMU wenig, um Frauen und ältere Arbeitnehmer besser einzubinden. Würde sich das Problem mit einer besseren Rekrutierung dieser Gruppen beheben lassen?
Ein wenig schon, aber nicht grundsätzlich. Der Arbeitsmarkt wandelt sich relativ schnell, vor allem über die Digitalisierung. Neue Qualifikationen sind notwendig. Man kann nicht einfach die Pensen der Frauen erhöhen, und schon ist das Problem gelöst. Frauen arbeiten oft in Branchen, in denen es gar keinen Mangel an Personal gibt, sondern eher einen Überschuss; ich denke an Büro- und Verkaufsberufe. Doch wir brauchen andere Qualifikationen auf dem Arbeitsmarkt.
Welche denn konkret?
Wir müssen die digitalen Kompetenzen der Menschen verbessern. Die Digitalisierung durchdringt alle Berufe, nicht nur den Informatikbereich. Eine Verwaltungsassistentin muss heute SAP beherrschen. Wenn wir mehr Alte oder Frauen im Arbeitsmarkt wollen, müssen wir auch fragen: Haben diese den Qualifikationsmix, um die Stellen dort zu besetzen, wo es wirklich brennt?
Nur wenige Frauen absolvieren technische und naturwissenschaftliche Studiengänge. Lediglich ein Fünftel der Abschliessenden in den MINT- Fächern sind weiblich. In anderen Ländern ist der Anteil höher. Warum ist das so?
Die Schweiz hinkt stark hinterher. Das hat auch mit der konservativen Kultur und mit Geschlechterstereotypen zu tun. Alles Technische ist bei uns männlich konnotiert. Es herrscht die Vorstellung, dass Männer in naturwissenschaftlichen Fächern talentierter sind als Frauen. Für junge Leute, die ihre Geschlechtsidentität am Aufbauen sind, ist es schwierig, gegen solche Stereotypen zu verstossen. Das Problem ist aber nicht nur, dass zu wenig Frauen ausgebildet werden in den MINT-Fächern, sondern auch die Rekrutierung der Unternehmen. Untersuchungen zeigen, dass Arbeitgeber bei Männern vor allem auf das Potenzial achten. Bei Frauen fragen sie: Was bringen die mit? Frauen werden bei der Stellensuche in ihren Qualifikationen unterschätzt, Männer überschätzt.
Das wäre ja eine Form von geschlechtsspezifischer Diskriminierung?
Sicher ist, Männer und Frauen werden bei der Stellen- suche anders behandelt. Hinzu kommt: Frauen steigen in den männerdominierten MINT-Berufen oft wieder aus. Das hat mit der Berufskultur und den Arbeitsbedingungen zu tun. In den technischen Branchen dominiert eine männ- lich geprägte Kultur, und es gibt wenige Teilzeitstellen. Oft herrscht die Vorstellung, man müsse 100 Prozent arbeiten. Bei 80 Prozent heisst es, diese Person habe keine richtige Arbeitsmoral. Es ist zu einfach, zu denken, man müsse bloss mehr Frauen ausbilden, dann sei das Problem gelöst. Man muss auch die Arbeitsbedingungen ändern, und zwar bis hin zu den Führungskräften. Dort sollte es möglich sein, Jobsharing zu machen.