Wer bin ich? Was kann ich? Was will ich? Wie verkaufe ich mich? Wie erreiche ich meine Ziele? Diese Fragen stellen sich bei jeder beruflichen Standortbestimmung. Scheint einfach. Auf den ersten Blick. Bei genauerem Hinsehen erweist sich dieses Vorhaben aber als anspruchsvoll. Die berufliche Standortbestimmung wird plötzlich sehr persönlich. Ein Erfahrungsbericht aus dem Leben eines langjährigen Coachs.

Christian Föllmi begleitet Menschen bei ihrer beruflichen Standortbestimmung.

Christian Föllmi ist Coach, Berater und Dozent. Er beschäftigt sich mit den Themen Führungscoaching, Personalentwicklung, Outplacement, Organisationsberatung und Projektmanagement.

Text CHRISTIAN FÖLLMI
Foto SIMONE GLOOR

«Leben ist das, was passiert, während du eifrig dabei bist, andere Pläne zu machen.»

(John Lennon, Musiker und Komponist)

Jeannine (Name geändert), Ende zwanzig, Betriebsökonomin, ehemalige Projektleiterin, stellensuchend nach einem Burnout. Juan (Name geändert), knapp sechzig Jahre alt, ehemaliges Geschäftsleitungsmitglied in einem Grosskonzern, stellensuchend aufgrund einer Reorganisation. Zwei komplett unterschiedliche Ausgangslagen, dasselbe Ziel: die erfolgreiche und nachhaltige Rückkehr in den Arbeitsmarkt. Die Geschichten haben sich ungefähr so zugetragen.

Der Auftrag an mich als Coach scheint offensichtlich. Unterstützung und Begleitung der Betroffenen auf diesem Weg: die Stellensuche optimieren, die Bewerbungsunterlagen überarbeiten, Jobinterviews vorbereiten. Doch wer sich näher mit den beiden Biografien auseinandersetzt, trifft sehr bald auf eine Vielschichtigkeit, die sich als deutlich herausfordernder erweist als ursprünglich erwartet.

Jeannine, die Umsteigerin – wer bin ich?
Jeannine war erfolgreich in einem grösseren internationalen Dienstleistungsunternehmen als Projektleiterin tätig. Fachlich und menschlich sehr geschätzt. Nach über zehn Jahren im selben Konzern die totale Krise, beruflich und persönlich. Kündigung, Trennung vom Freund, abgetaucht bei einer Freundin. Ausgebrannt und leer. Als sie nach rund einem Jahr Arbeitslosigkeit zu mir kommt, hat sie sich aufgefangen, wirkt aber immer noch verletzlich. Wie ihre weitere Zukunft aussehen soll, steht in den Sternen. Was sie sicher weiss: Sie muss etwas ändern. Bei meiner Aussage «Du schiebst eine Midlife-Crisis, einfach zwanzig Jahre zu früh», schmunzelt Jeannine und korrigiert: «Quarterlife-Crisis».

Beiträge abonnieren

Als Abonnent/in werden Sie per E-Mail benachrichtigt, wenn in der FAU-Wissensdatenbank ein neuer Beitrag publiziert wird. Das Abonnement ist kostenlos und mit einem Klick kündbar.

Wir spammen nicht. Lesen Sie unsere Datenschutzerklärung für weitere Informationen.

«Wer bin ich – und wenn ja, wie viele?»

(Richard David Precht, Philosoph und Publizist)

Am Anfang einer beruflichen Neuorientierung steht die Standortbestimmung. Dies unabhängig davon, ob der Stellenwechsel freiwillig oder unfreiwillig erfolgt. Ziel der Auslegeordnung ist es, für die Betroffenen ihre Ausgangslage in ihrer ganzen Breite sicht- und erfahrbar zu machen. Dafür lohnt es sich, als begleitender Coach genügend Zeit einzuplanen. Meine Fragen steuern den Prozess. Moderationskarten sind für mich dabei ein wichtiges Arbeitsmittel.

Zunächst tragen wir wesentliche Einflussfaktoren zusammen, die auf die aktuelle Lebenssituation einwirken. Das können Personen sein wie die Familie oder Freunde, Gegenstände oder Hobbys wie zum Beispiel Bücher oder das Bergsteigen. Oder eigene Ansprüche wie Perfektion, Harmonie oder Kontrolle. Oder Erwartungen des Umfelds. Ein Beispiel hierfür wäre die zunehmende Bedeutung von anerkannten Ausbildungsabschlüssen.

«An den Scheidewegen des Lebens stehen keine Wegweiser.»

(Charlie Chaplin, Schauspieler und Filmproduzent)

Objektive Fakten wie absolvierte Ausbildungen, ehemalige Arbeitgeber oder Fremdsprachenkenntnisse sind bald zusammengetragen. Beim persönlichen Rucksack dagegen, etwa dem angeschlagenen Selbstbewusstsein aufgrund eines unschönen Stellenverlusts, wartet meist viel Aufarbeitungsarbeit auf uns. Gerade solche unbewältigten emotionalen Stolpersteine stehen einem erfolgreichen nächsten beruflichen Schritt besonders oft im Wege.

Jeannine weiss, dass sie sich vom bisherigen Job verabschieden will oder sogar muss. Bei Karrierebrüchen, aus welchen Gründen auch immer diese erfolgen, werden wir oft auf uns selbst, unser Selbstverständnis zurückgeworfen. Unweigerlich stellt sich in solchen Momenten die Frage: Wer bin ich denn überhaupt – jenseits der offiziellen Koordinaten wie Alter, Geschlecht oder letzter Ausbildungsabschluss? Hier kann ich als Coach mit gezielten Fragen dazu beitragen, dass die Coachees für sich bisher unbekannte Wege entdecken. Oder dass sie sich trauen, neue Türen aufzustossen, die mit ihrer Persönlichkeit oder ihren Werten im Einklang sind.

Juan, der Erfahrene – was kann ich?
Welch ein Frust! Juan, bestens qualifiziert, wird fast zu keinem Bewerbungsgespräch eingeladen. Auf Nachfrage wird dem ehemaligen Finanzchef mitgeteilt, er sei für die angestrebte Position überqualifiziert. Dass er seine grosse Erfahrung künftig vermehrt in einem Projektteam einbringen möchte, stösst auf Misstrauen. «Sobald Sie etwas Besseres finden, sind Sie bei uns sowieso wieder weg.» Dies der allgemeine Tenor seitens der Arbeitgeber.

«Können ist nichts ohne Gelegenheit.»

(Napoleon Bonaparte, französischer General und Kaiser)

An einer Führungsposition ist Juan als Endfünfziger nicht mehr interessiert. Damit verbundene Lohneinbussen sind für ihn kein Problem. Seine Kinder sind aus dem Haus, die finanziellen Verpflichtungen kleiner. Dafür hätte er gerne mehr Zeit für seine Frau und auch für sich selbst. Sein erklärter Wunsch ist, sich in der letzten Berufsphase wieder vermehrt mit fachlichen Fragestellungen auseinanderzusetzen. Nur glaubt ihm das niemand. Leider hat Juan bisher die Gelegenheit noch nicht erhalten, seine Aussage unter Beweis zu stellen.

Unsere Grosseltern erlernten ihren Beruf, etwa Buchhalterin oder Schreiner, den sie in der Regel bis zu ihrer Pensionierung ausübten. Karrierebrüche waren die Ausnahme, das Thema berufliche Standortbestimmung/Neuorientierung eine Randerscheinung. Seit die Digitalisierungswelle vor rund einem Jahrzehnt richtig Schwung aufgenommen hat, werden die Grenzen der Kontinuität auf beruflicher Ebene immer offensichtlicher.

Seiner Berufung folgen – was will ich?
Viele Menschen wissen, was sie nicht wollen. Das ist einfacher zu formulieren als das, was wir wirklich wollen. So ist für Jeannine klar, dass für sie kein Weg mehr zurück in einen Grosskonzern führt. Konkrete Vorstellungen von ihrem künftigen Wirkungsfeld hat sie aber noch nicht. Ihr schwebt eine Tätigkeit in der Beratung oder in der Ausbildung vor. Während Juan zumindest thematisch weiterhin im angestammten Fachgebiet Finanzen tätig sein möchte, strebt Jeannine eine deutlich einschneidendere Veränderung an.

«Wer seiner Berufung folgt, hat weniger zu verlieren.»

(Mathias Morgenthaler, Journalist und Coach)

Der Journalist und Coach Mathias Morgenthaler bricht eine Lanze für unkonventionelle berufliche Biografien und regt an, sich und seinen Visionen treu zu bleiben. Unter anderem formuliert er in seinem Buch «Out of the Box» die folgende These: «Wer seiner Berufung folgt, hat weniger zu verlieren.» Zu diesem Schluss kommt er aufgrund zahlreich geführter Interviews mit beruflichen Aus- und Umsteigern. Viele von ihnen haben dank ihrem mutigen Schritt in zum Teil noch unbekannte Gewässer ihr berufliches und damit auch persönliches Glück gefunden. Als Coach sehe ich meine Aufgabe auch darin, meine Coachees dabei zu unterstützen, ihre Berufung zu finden und diese soweit möglich auch zu leben. Oft ist viel mehr Spielraum vorhanden, als wir uns zunächst eingestehen – dies meine feste Überzeugung.

Ausgehend von der einmal erfolgten Standortbestimmung, definieren wir mögliche berufliche Optionen und entwickeln diese in einem nächsten Schritt weiter. Gerne arbeite ich an diesem Punkt mit der Wunderfrage des amerikanischen Psychotherapeuten Steve de Shazer und seiner Ehefrau Insoo Kim Berg. Dabei reist bei Shazer / Kim Berg die Patientin gedanklich in eine Wunschzukunft und erlebt diese mit all ihren Sinnen. Die künftige Idealsituation wird in die Gegenwart geholt, das Konstrukt zur Realität und damit für die Betroffene direkt beschreibbar. Keinesfalls soll die Zeitreise aber dazu verleiten, in einer Utopie stecken zu bleiben. Immer wieder bin ich von neuem fasziniert vom Erkenntnisgewinn dieser vordergründig so einfachen Methode, die längst auch ausserhalb der therapeutischen Arbeit erfolgreich zur Anwendung kommt.

«Was sind Erfolge wert, über die sich kein anderer freut?»

(Marc Kraft, Medizintechnikentwickler)

Der Psychologe Martin Seligman schreibt mit Blick auf das persönliche Wohlbefinden der Sinnfrage eine zentrale Bedeutung zu. Sinn ist etwas sehr Individuelles und gleichzeitig eng mit den eigenen Werten verbunden. Mit Jeannine erforschen wir deshalb, welche Werte in ihrem beruflichen und privaten Leben wichtig sind. Ein Wechsel etwa von einem Finanzinstitut in die Beratung oder in ein Bildungsumfeld geht automatisch mit einer Werteverschiebung einher. Während bei einer Bank das Thema Geld im Zentrum steht, rücken im Consulting oder in der Wissensvermittlung zwischenmenschliche und didaktische Fragestellungen vermehrt in den Vordergrund.

Botschaft überzeugend verpacken – wie verkaufe ich mich?
Gefragt sind auf dem Arbeitsmarkt jeweils spezifische fachliche, methodische und soziale Kompetenzen. Als Leistungsnachweis dienen Ausbildungsabschlüsse sowie Arbeitszeugnisse, allenfalls noch persönliche Referenzen. Hinzu kommen manchmal unausgesprochene Vorstellungen bezüglich Alter oder Nationalität, die sich für Bewerbende plötzlich als grössere Hürden erweisen. Nennen wir das Kind beim Namen: Wessen Herkunft aufgrund des Lebenslaufs einem anderen Kulturkreis zugeordnet werden kann, wird in der Regel zumindest kritischer bewertet. Ähnliches gilt für die Altersdiskriminierung. Dass der wahre Grund für die Ablehnung einer Bewerbung vielfach nicht offengelegt wird, kränkt die Betroffenen ebenfalls.

«Erfolgreich verkaufen heisst seine Begeisterung verkaufen.»

(Michael Marie Jung, Führungskräftetrainer und Coach)

Die zunehmende Standardisierung und Automatisierung des Bewerbungsprozesses, eine Folge der grossen Bewerbungsflut, erschwert die Ausgangslage zusätzlich. Wer dem Normprofil nicht entspricht, fällt bereits in einer frühen Phase schnell einmal durch die Maschen. Genau in solchen Fällen kann ich als Coach ansetzen und meine Coachees beim Marketing in eigener Sache unterstützen. Das Produkt ist das eine, die Verpackung das andere. Letztlich sind wir immer auch die, als welche wir von aussen wahrgenommen werden. Die Millennials haben mit dem Thema Selbstdarstellung, sich selbst zu verkaufen, wenig Berührungsängste. Aber für viele, gerade auch ältere Stellensuchende ist diese Erfahrung neu.

Für unsere Coachings heisst das, dass wir vermehrt am eigenen Auftritt, an der eigenen Marke, am «Self-Branding», arbeiten. Jeannine muss aufzeigen können, dass ihre in der Finanzwelt erworbenen Kompetenzen auch in einem anderen Umfeld ausserhalb der Privatwirtschaft einen Mehrwert darstellen. Juan ist mit seinem beeindruckenden beruflichen Rucksack und seiner Lebenserfahrung die perfekte Besetzung als starke Stütze einer Vorgesetzten. Aufgrund seiner bereits erfolgreichen Karriere sowie seines Wunschs nach weniger Verantwortung stellt er zudem keine Gefahr für die Laufbahn künftiger Chefs mehr dar. Diese Botschaft muss ankommen.

An sich glauben – wie erreiche ich meine Ziele?
Die Ausgangslage ist geklärt, die wesentlichen Stolpersteine der Vergangenheit sind aus dem Weg geräumt, das berufliche Ziel ist bekannt. Jetzt folgt die Umsetzung, die konkrete Stellensuche kann beginnen. Zentral in dieser Phase ist aus meiner Sicht das persönliche Netzwerk. Hier fliessen wichtige Informationen, werden Anregungen und Ideen ausgetauscht. Auch entscheidende informelle Hinweise nehmen in der Regel diesen Weg. Zudem ist das der richtige Moment, um die Bewerbungsunterlagen auf den neusten Stand zu bringen. Dazu benötigen wir die Erkenntnisse aus der Standortbestimmung sowie der Klärung des beruflichen Ziels. Wie sonst wollen wir unsere Visitenkarte in Form von Lebenslauf und Motivationsschreiben aussagekräftig gestalten, wenn grundlegende Fragestellungen noch offen sind?

«Die Tat unterscheidet das Ziel vom Traum.»

(Verfasser unbekannt)

Was macht den Erfolg einer Standortbestimmung und Neuorientierung aus? Wo sind meine Möglichkeiten und Grenzen als Begleitperson in diesem Prozess? Meine persönliche Antwort als langjähriger Berater: Die Haltung gibt letztlich den Ausschlag, sowohl meine Haltung als Coach als auch diejenige meiner Coachees. Gemäss dem Arzt und Achtsamkeitstrainer Jon Kabat-Zinn bereitet uns das Leben «in Wirklichkeit keine Probleme, nur Situationen, die eine Antwort erfordern». Diese Aussage bringt auch meine persönliche Sichtweise treffend auf den Punkt. Glaube ich an meine Coachees? Glaube ich an ihre Wünsche und Träume? Glaube ich daran, dass sie in der Lage sind, diese zu verwirklichen?

So wird das Thema Standortbestimmung für diejenigen, die sich ernsthaft darauf einlassen, in erster Linie eine Auseinandersetzung mit sich selbst, mit den eigenen Werten, Wünschen, Möglichkeiten und Grenzen. Im Zentrum steht am Ende, so meine Erfahrung, fast immer die Sinnfrage. Wer für eine Idee brennt, entwickelt auch die Energie, Hürden zu überwinden und Rückschläge zu verarbeiten. Meine Aufgabe als Coach besteht darin, den Rahmen für diese Zusammenarbeit auf Zeit zu gestalten, den Entwicklungsprozess zu steuern – und vor allem, immer wieder Fragen zu stellen. Die Antworten sind sowieso bereits vorhanden. Sie waren bisher nur verschüttet.

Beruflich angekommen – endlich am Ziel?
Jeannine schloss vor kurzem die pädagogische Hochschule ab und ist jetzt mit Hingabe als Primarlehrerin tätig. Gerade der Blick in die Zukunft mittels der Wunderfrage hat Wesentliches zu ihrem Entscheid beigetragen, diesen Weg schliesslich einzuschlagen. Juan betreibt jetzt, zusammen mit seinem Sohn, ein kleines Treuhandbüro. Dank den Erkenntnissen aus unserer Zusammenarbeit verwarf er schliesslich die Option Anstellungsverhältnis zugunsten seiner heutigen Selbständigkeit. Sein Drang nach Unabhängigkeit gab letztlich den Ausschlag für diesen Schritt.

«… dich selbst als Ankömmling an deiner eigenen Tür begrüssen …»

(Derek Walcott, Dichter und Schriftsteller)

Sind Jeannine und Juan beruflich angekommen? Solange wir leben, befinden wir uns auf dem Weg, sind wir am Reisen. Nach der Standortbestimmung ist deshalb vor der Standortbestimmung. Ein Lebensprojekt.

Christian Föllmi, Coach

Zur Person
Christian Föllmi ist Supervisor-Coach mit eidgenössischem Diplom, Berater und Dozent. Als Geschäftsführender Partner bei CFdC – Föllmi de Capitani Consulting GmbH bietet er Trainings und Coachings für Führungskräfte an.

© FAU - Fokus Arbeit Umfeld