Vor Publikum sprechen zu müssen, treibt vielen Menschen den Angstschweiss auf die Stirn. Rhetorikclubs wie die «Toastmasters Luzern» bieten ihren Mitgliedern die Möglichkeit, in einem geschützten Rahmen diese Unsicherheit zu überwinden. Offenbar mit grossem Erfolg, wie die Reportage über einen Toastmasters-Abend aufzeigt.

Gregor Eicher voll im Element bei seiner Stegreifrede.

Text JONAS SPIRIG
Fotos SIMONE GLOOR

«Wenn ihr ‹Maya-Geist› googelt, findet ihr Infos zu Pyramiden und den Landebahnen der Ausserirdischen. Die gibt es wegen mir. Denn die Maya hat mich sitzengelassen und ist abgeflogen, raus ins Weltall, und dafür musste sie eine Startbahn bauen.»
Was für Aussenstehende wie ein leicht wirres Science-Fiction-Märchen klingt, ist ein Ausschnitt aus Gregor Eichers Stegreifrede an einem Anlass des Rhetorikclubs «Toastmasters Luzern». Gregor – bei den Toastmasters sind alle von der ersten Minute an per Du – ist seit zwei Jahren mit Leidenschaft beim Rhetorikclub dabei. Der 59-jährige Familienvater hat erst auf dem Weg zum Rednerpult erfahren, worüber er zwei Minuten lang reden soll. Das scheint ihm nichts auszumachen; er legt sofort los.

Stegreifreden – die Königsdisziplin
Doch wie macht man das, in so einer Situation blitzschnell einen guten Einfall parat zu haben? «Ich beginne meine Stegreifreden meist mit dem Wiederholen der gestellten Frage, um die Ausgangslage klarzumachen und das Publikum mitzunehmen», erklärt Gregor. «Und ich weiss natürlich – zumindest in der Theorie –, mit welchen Elementen ich eine kurze Rede überzeugend gestalte: mit Emotionen, die jeder schon einmal erlebt hat, mit Alltagssituationen, in denen sich jeder wiedererkennt. Dazu eine Prise Humor, idealerweise gepaart mit Selbstironie», fasst Gregor ein paar Tipps zusammen. Aber eine feste Strategie, um sofort kreativ zu sein, gebe es eigentlich nicht. «Ausser: üben, üben und nochmals üben!» Ans Rednerpult geholt hat ihn Alfred. Der führt am heutigen Abend unter anderem die Rolle, die jeweiligen Rednerinnen und Redner aufzurufen und ihnen mitzuteilen, was er sich als Thema für die nächste Stegreifrede ausgedacht hat. 13 Clubmitglieder und drei Gäste warten gespannt, denn niemand weiss in dem Moment, wer worüber die nächste Rede halten soll. Alfred nimmt aus einem Luxus-Reiseführer als Schauplatz und Rahmenhandlung für seine sehr fantasievollen Aufträge die Halbinsel Yucatán in Mexiko und versetzt seine «Opfer» an Orte wie den Cats Reggae Night Club oder die Piratenstadt Capete.

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«Bewertungen erfolgen grundsätzlich als konstruktive Kritik, die stets das Positive in den Vordergrund stellt.»

Gregor Eicher

Mafia, Lehmhütten und eine Pferdekutsche
Eine Rednerin soll beispielsweise erzählen, wie sie ein lokales nachhaltiges und soziales Architekturprogramm vor Vertretern der mexikanischen Mafia präsentieren will. Ein anderer Teilnehmer hat als Ausgangslage, sich in seiner gemieteten Lehmhütte mit einem Geist des Eingeborenenvolks Maya herumzuschlagen. Und Gregors eingangs zitierte Worte sind Teil seiner Erläuterung, was passiert, als ihn der Lenker einer mexikanischen Pferdekutsche kurzerhand mit seiner schönen Tochter verheiraten will. Was jeweils folgt, ist über weite Strecken ein Feuerwerk an Fantasie. Zwar sind die spontanen Vorträge mal mehr, mal weniger flüssig, und nicht immer bleiben Logik und Zusammenhänge über alle Zweifel erhaben. Doch immer wieder blitzen rhetorisch brillante Passagen und wunderbare Beispiele blühender Fantasie auf, und gelegentlich lassen bühnenreife Mimik und Gestik auf erfahrene Redende schliessen. Was auffällt: Niemandem bleibt buchstäblich das Wort im Hals stecken, und vor allem: Alle haben Spass!

«Auftrittskompetenz bedeutet, zu lernen, wie man auf andere wirkt.»

Gregor Eicher

Applaus und ein geschützter Rahmen
Doch bringt das alles tatsächlich auch etwas für Beruf und Karriere? Wer beim Firmenworkshop oder im Bewerbungsgespräch von einer Frage komplett auf dem falschen Fuss erwischt wird, kann nicht einfach über Landebahnen von Ausserirdischen oder über Maya-Geister fabulieren, oder? Dazu macht Gregor klare Aussagen: «Auftrittskompetenz bedeutet, zu lernen, wie man auf andere wirkt. Regelmässige Auftritte bei den Toastmasters fördern die Fähigkeit, kompetent zu wirken, souverän zu reagieren und aufmerksam zuzuhören. Das sind wertvolle Eigenschaften sowohl im beruflichen wie auch im privaten Umfeld.»

Eine wichtige Grundlage sei bei den Toastmasters absolut zentral, damit der erwähnte Lernprozess funktioniert: Wertschätzung. «Diskriminierende oder verletzende Kritik gibt es bei uns nicht.» Im Gegenteil: «Bewertungen erfolgen grundsätzlich als konstruktive Kritik, die stets das Positive in den Vordergrund stellt», betont Gregor. Das bilde den geschützten Rahmen, von dem oft die Rede sei.

«Diskriminierende oder verletzende Kritik gibt es bei uns nicht.»

Gregor Eicher

  • Bei Urs Brunners vorbereiteter Rede unter dem Titel «Retro» kommen Mimik, Gestik, ein Schuh und die sprichwörtliche rosa Brille zum Einsatz.

  • Für die vorbereiteten Reden gibt es ein kurzes schriftliches Feedback von allen Anwesenden.

  • Der Zeitnehmer Roger Fassbind sorgt mit farbigen Fähnchen dafür, dass niemand beim Reden überzieht.

Liebeserklärung an einen Schuh
Ein wichtiger Programmpunkt des Abends noch vor den Stegreifreden sind drei vorbereitete Reden. Hier stehen Aspekte wie rhetorische Technik, Aufbau einer Rede oder Gestik und Mimik stärker im Fokus. Damit die drei Redenden bestmöglich von einem fundierten Feedback profitieren, nehmen drei andere Clubmitglieder die Rolle von «Rede-Bewertenden» ein.

Gregor darf an diesem Abend den erfahrenen Redner Urs bewerten. Urs’ Auftritt ist fulminant: Mit viel Gestik, Leidenschaft und Humor macht er unter dem Titel «Retro» seinem Adidas-Schuh eine Art Liebeserklärung. Im Prinzip ist es ein Lebensrückblick, aber der Schuh dient Urs als Ankerpunkt für viele Schlüsselmomente seines bisherigen Lebens. Sowohl der Schuh selbst als auch die sprichwörtliche rosa Brille kommen nicht nur sprachlich, sondern auch physisch zum Einsatz.

Auch Gregors Bewertung der Rede im Plenum ist fulminant. Er ist voll des Lobes für Urs’ energievollen und authentischen Auftritt: «Du hast uns das Thema für alle Sinne zugänglich gemacht.» Lediglich zum Tiefgang des Themas äussert der Redebewerter die selbstironische Kritik, dass Urs offenbar das System Gregor angewendet habe: wenig vorbereiten, viel reden.

Toastmaster Luzern

Lisa Vollmeier, Präsidentin der Toastmasters Luzern, bei der Preisverleihung. Links Peter Hofer, rechts Gregor Eicher.

And the winner is …
Begrüssung, Moderation, drei vorbereitete Reden, drei Redebewertungen, neun Stegreifreden, drei Abstimmungen und weitere Traktanden – das Programm des Abends ist dichtgedrängt. Trotzdem überschreiten die Toastmasters ihre Zeitvorgabe von zwei Stunden nur um wenige Minuten. Dafür sorgt nicht zuletzt der Zeitnehmer, der mit grünen, gelben und roten Fähnchen gewissenhaft dafür sorgt, dass niemand überzieht. Er tut dies mit einem Augenzwinkern, wie auch die «Sprachhüterin», die über den korrekten Sprachgebrauch wacht, aber auch die besten Bonmots des Abends zusammenfasst, oder die «Füllwort-Zählerin», die für jedes einzelne «äh» einen Strich auf ihren Zettel macht.

Am Schluss des Abends verteilt Clubpräsidentin Lisa die Preise. Für die Auszeichnung «Beste Stegreifrede», die Gregor in der Vergangenheit schon ein paarmal gewonnen hat, reicht es mit seinen ausserirdischen Landebahnen und seiner Maya nicht. Aber er gewinnt den Wimpel als bester Bewerter dank seiner humorvollen Einschätzung von Urs’ Rede. Die Gewinner der drei Preiskategorien werden frenetisch beklatscht, doch gewonnen haben ohnehin alle. Denn alle haben viel gelernt. Und viel Spass gehabt.

Zur Person
Gregor Eicher, 59, ist Vater von zwei erwachsenen Kindern und wohnt zusammen mit seiner Frau am Stadtrand von Luzern. Nach seiner Ausbildung in der grafischen Industrie und seinem Abschluss an der höheren Fachschule für Technik, Management und Kommunikation arbeitete er unter anderem als Leiter eines Gewerkschaftsbüros und als Berater beim kantonalen Arbeitsinspektorat. Nach einer Burn-out-Erfahrung musste er einen komplett neuen Berufsweg einschlagen und lernte, wie effizient verschiedene Techniken zur Verbesserung der Selbstmanagementfähigkeit sind. Gregor Eicher absolvierte eine Ausbildung zum Betrieblichen Mentor bei der Lernwerkstatt Olten; heute coacht und begleitet er Menschen zu einer höheren Auftrittskompetenz. Er ist seit zwei Jahren Mitglied bei den Toastmasters Luzern.

Toastmasters

Toastmasters Luzern ist einer von zahlreichen Toastmasters- und Rhetorikclubs der Schweiz. Deren Ziel ist es, die rhetorischen Fähigkeiten ihrer Mitglieder zu verbessern – je nach Club auf Deutsch, Englisch und Französisch.
Der erste Toastmasters-Club der Schweiz ist 1973 in Zürich entstanden; Toastmasters International wurde 1924 in den USA gegründet. Die Organisation hat nach eigenen Angaben bis 2019 weltweit mehr als 16 800 Clubs in 143 Ländern mit rund 358 000 Mitgliedern.

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