Glücklich ist, wer Arbeit hat. Diese zwar vereinfachte und grundsätzlich gültige Binsenwahrheit stimmt, aber anscheinend immer öfter eben auch nicht: Was und warum, wenn plötzlich alles zu viel wird und die Kraft nicht mehr reicht? Bei immer mehr Menschen fressen zwischenmenschliche und fachliche Herausforderungen so viel Kraft, dass sie innerlich ausbrennen.
Arbeitsbedingter Stress ist nicht nur schädlich für die Gesundheit der Betroffenen, sondern hat auch direkte betriebswirtschaftliche Folgen.
Text TOMMY DÄTWYLER, freischaffender Autor
Rund 30 Prozent der Erwerbstätigen in der Schweiz fühlen sich gemäss Umfragen am Arbeitsplatz erschöpft und ausgelaugt, viele von ihnen sind frustriert, und die Zahl jener, die krank werden und später eine IV-Rente zugesprochen erhalten, hat in den letzten Jahrzehnten überproportional zugenommen. Was läuft schief? Überfordern der rasche Wandel und die Digitalisierung eine immer grösser werdende Zahl von Arbeit nehmenden? Nein, meinen Fachleute übereinstimmend. Die Situation müsse zwar ernst genommen, dürfe aber trotzdem nicht dramatisiert werden. Psychische Sorgen und Probleme gehörten zum Leben und liessen sich zwar nicht ausnahmslos immer, aber doch meistens entschärfen und lösen. Es gebe Handlungsbedarf auf allen Ebenen. Die Werkzeuge dafür heissen unter anderem «Wertschätzung, Unterstützung und Freiraum bei der Arbeit». Und, sind sich die Fachleute einig, es braucht vermehrt den Mut, psychische Auffälligkeiten am Arbeitsplatz früh anzusprechen und so für Klarheit, Grenzen und Orientierung zu sorgen.
Fünf Tage durchhalten und zwei Tage leben
Die Schlagzeilen machen hellhörig: «Viele Berufstätige gehen nur widerwillig zur Arbeit und sind bereits am Sonntagabend angespannt, bevor die Arbeitswoche überhaupt beginnt», liess sich die Arbeitspsychologin Nicole Kopp von der Beratungsfirma GoBeyond in der «NZZ am Sonntag» vom 8. April 2023 zitieren. Ein erschreckend grosser Teil der Erwerbstätigen arbeite nach der Devise «Fünf Tage durchhalten, damit man nachher wieder zwei Tage leben kann». Auch der unabhängige Dachverband der Arbeitnehmenden, Travail.Suisse, hat im Frühsommer 2023 Alarm geschlagen: Gemäss seiner eigenen Umfrage fühlen sich rund 40 Prozent am Arbeitsplatz gestresst und erschöpft, und das Bundesamt für Gesundheit (BAG) kam schon im vergangenen Jahr zum Schluss, dass sich sogar 41 Prozent der jungen Frauen im Alter zwischen 16 und 24 Jahren am Arbeitsplatz emotional ausgelaugt fühlen und über Überbeanspruchtsein und Energieverlust klagen.
Die Frage nach dem Warum drängt sich nicht nur auf, weil Stressreaktionen ohne vollständige Erholung chronisch werden und sich negativ auf die Gesundheit und das Wohlbefinden auswirken. Eine solche Spirale ist auch wirtschaftlich problematisch, denn arbeitsbedingter Stress ist nicht nur schädlich für die Gesundheit der Betroffenen, sondern hat auch direkte betriebswirtschaftliche Folgen, weil wichtiges Wertschöpfungspotenzial verloren geht.
Trotz der alarmierenden Zahlen zeigen sich Fachleute bei einer abschliessenden und allgemeingültigen Beurteilung der gesundheitlichen Situation der Arbeitnehmen den in der Schweiz vorsichtig und auffallend zurückhaltend. Sie alle bestätigen, dass rund 30 Prozent der Schweizer Bevölkerung mindestens einmal im Jahr psychische Erkrankungen durchstehen, die medizinisch diagnostiziert werden könnten. «Psychische Probleme sind so häufig wie Rückenschmerzen, und über 70 Prozent der Erkrankten arbeiten in dieser Zeit normal. Aber», so erklärt der Basler Psychologe Niklas Baer vom Zentrum Arbeit und psychische Gesundheit «Workmed» Baselland, «man darf diese Zahlen nicht dramatisieren.»
Einmal krank heisst nicht immer krank
Gemäss Niklas Baer treten heute auch im internationalen Vergleich schweizweit nicht mehr psychische Erkrankungen auf als früher, nur die Wahrnehmung und der Umgang damit haben sich verändert. So stünden viel mehr Behandlungsmöglichkeiten als früher zur Verfügung, und die Menschen liessen sich heute auch vermehrt behandeln, was grundsätzlich positiv sei. Dies habe allerdings nicht dazu geführt, dass wir heute Herausforderungen bei der Arbeit besser bewältigen könnten als früher. Was damit zusammenhänge, dass die vermehrte Behandlung psychischer Probleme vor allem entlastend wirke, aber die Patienten zu wenig dabei unterstütze, berufliche Probleme, Konflikte oder Frustrationen aktiv zu lösen. Zudem gelte es in diesem Zusammenhang aber immer auch hervorzuheben, dass psychische Probleme, Schicksalsschläge und Krisen auch zu einem gesunden Leben gehörten und in den meisten Fällen auch die Möglichkeit bestehe, eine Baisse zu überstehen und wieder gesund zu werden.
Der erfahrene Psychologe und Forscher Niklas Baer betont, dass weniger als fünf Prozent der Erkrankungen extrem behindernd und invalidisierend sind, aber in 95 Prozent der Fälle psychische Erkrankungen, Sorgen im Berufsalltag, Überforderung und belastende Arbeitssituationen angegangen und zumindest ent schärft werden können und sollen. So wären unter Umständen auch die gravierenden Auswirkungen von meist sehr langen Krankschreibungen abzufedern, ist Baer überzeugt.
Eine Studie des Krankenversicherers Swica in Zusammenarbeit mit Workmed hat 2022 ergeben, dass rund die Hälfte der aus psychischen Gründen krankgeschriebenen Arbeitnehmenden letztendlich den Job verlieren. Bei fast 60 Prozent der psychisch erkrankten Personen mit Jobabsenzen waren zwischenmenschliche Probleme am Arbeitsplatz mitverantwortlich. Das kann als Hinweis gewertet werden, dass bei schwierigen persönlichen Konstellationen oft zu lange gewartet wird und Probleme auf die lange Bank geschoben werden. «Das Aussitzen von Problemen funktioniert aber nur ganz selten», meint Baer. Hier seien alle Beteiligten in der Pflicht: Arbeitgeber, Arbeitnehmer und Ärzte. Sicher sei nämlich: «Wer lange krankgeschrieben wird, riskiert in der Folge, gekündigt, arbeitslos oder invalid zu werden.»