Wer im Alter weiterarbeiten möchte, findet heute mehr Möglichkeiten. Vor allem Fachwissen bleibt gefragt. Mit der AHV-Reform 21 wird Arbeiten im Pensionsalter auch finanziell attraktiver.
Arbeiten im Rentenalter: 14 Prozent der über 70-Jährigen Männer und 7 Prozent der Frauen in dieser Altersgruppe sind noch erwerbstätig.
Text BERNHARD RAOS
Hans Frei tut das, was Wirtschaft und Politik seit längerem propagieren: Der 75-jährige Romanshorner Buchhaltungs- und Steuerexperte arbeitet über sein reglementarisches Pensionsalter hinaus. «Ich kann doch nicht nur Tennis spielen, segeln oder daheim herumsitzen. Ich schätze die sozialen Kontakte an meinen diversen Arbeitsplätzen», sagt der rüstige Senior.
Er war Treuhänder, später Finanzchef einer Gemeinde, wechselte mit 64 noch zu einer Non-Profit-Organisation, führte dort eine neue Buchhaltungssoftware ein, organisierte den Büroumzug und liess sich mit 68 pensionieren. Seine Rente aus der 2. Säule hat er so lange aufgeschoben, die AHV-Rente bezieht er regulär seit dem 65. Altersjahr.
Hans Frei hat auch nach seiner Pensionierung mit 68 nicht aufgehört zu arbeiten. Er hat sein Profil auf der Internetplattform des Thurgauer Gemeindeverbandes hinterlegt und wird dort als sogenannter Springer geführt. Hans Frei übernimmt jeweils für Wochen oder Monate diverse Mandate in Teilzeit: «Ich kann mir die Aufträge einteilen und arbeite oft von zu Hause aus.» Mehrere Plattformen informieren arbeitswillige Rentnerinnen und Rentner über die Möglichkeiten, nach 65 weiterzuarbeiten.
Die Expertise von Hans Frei ist gefragt. Auch bei mehreren Kleinfirmen, für die er die Jahresabschlüsse macht. Zwei Jahre lang ist er zudem als Freiwilliger «Tixi-Taxi» gefahren, das Menschen mit Einschränkungen befördert. Es gehe ihm gut, und er gebe gerne etwas zurück, sagt er.
Flexibel bleiben
Wer immer wieder mal die Stelle gewechselt und sich beruflich à jour gehalten hat, besitzt auch im Rentenalter gute Karten. Zudem fällt die Altersguillotine heute später, weil die Babyboomer in Pension gehen, weniger Junge nachfolgen und immer mehr Arbeitskräfte fehlen. Viele Branchen suchen händeringend Personal.
Nach aktuellen Daten aus der Schweizerischen Arbeitskräfteerhebung (SAKE) gehört Hans Frei zu den 14 Prozent der über 70-jährigen Männer, die noch erwerbstätig sind. Bei den Frauen sind es in dieser Kategorie 7 Prozent. Allerdings sagen diese Zahlen wenig aus über das Arbeitsvolumen. Als erwerbstätig gilt bereits, wer mindestens eine Stunde pro Woche arbeitet oder unentgeltlich im Familienbetrieb tätig ist. Altersarbeit ist Teilzeitarbeit: Mehr als die Hälfte hat ein Pensum von weniger als 50 Prozent.
Die Erwerbstätigkeit der 65- bis 74-Jährigen entspricht rund 74 000 Vollzeitstellen. In dieser Altersgruppe arbeiten insgesamt noch 19 Prozent. Das ist im internationalen Vergleich tief. Die Schweiz liegt damit 3 Prozent unter dem OECD-Durchschnitt. Anders schaut es in der Altersgruppe der 55- bis 65-Jährigen aus; da hat die Schweiz eine der höchsten Beschäftigungsquoten weltweit.
Kulturwandel nötig
Warum sind nur wenige nach der Pensionierung noch erwerbstätig? «Ein Grossteil hört mit dem ordentlichen AHV-Alter auf. Die Hauptgründe sind individuell sehr unterschiedlich», sagt Karl Flubacher, Geschäftsleiter Nordwest- und Westschweiz beim Vermögenszentrum VZ. Unter anderem sei es bei vielen Arbeitgebern trotz Fachkräftemangel nicht üblich, dass über 65 beziehungsweise 64 Jahre hinaus weitergearbeitet werde. Eigentlich verwunderlich, fügt er an. Ein gesetzlicher Anspruch auf Weiterbeschäftigung im Alter besteht nicht.
Der Kulturwandel bei den Firmen geschieht langsam. Wer länger arbeiten möchte, sollte dies also frühzeitig dem Arbeitgeber signalisieren. Eine Teilzeitbeschäftigung im AHV-Alter kann ideal sein, um schrittweise auszusteigen. Verschiedene Optionen sind möglich; entweder als freier Mitarbeitender oder weiter als Angestellte oder Angestellter mit reduziertem Pensum.
Selbständige zahlen je nach Erwerbseinkommen 5,2 bis 10 Prozent AHV-, IV- und EO-Beiträge; Angestellte total 10,6 Prozent inklusive Arbeitgeberanteil und ohne Arbeitslosenversicherung (ALV). Ist das AHV-Alter erreicht, werden Sozialbeiträge nur noch ab einem Minimaleinkommen von 16 800 Franken jährlich oder 1400 Franken monatlich fällig. Arbeitet jemand für mehrere Arbeitgeber, gelten die Freibeträge für jeden dieser Aufträge.
Um bei der AHV als selbständig zu gelten, gibt es Kriterien. Vorausgesetzt werden etwa mehrere Auftraggeber oder auch eigene Geschäftsräume und Arbeit auf eigenes Risiko. Arbeitet jemand als Einzelunternehmer vorwiegend für einen Arbeitgeber, wird er oder sie in der Regel von der AHV als Angestellter eingestuft. In diesem Fall erhalten Angestellte weiter einen Lohnausweis und bleiben ab einem Einkommen von 22 050 Franken bis zum ordentlichen AHV-Alter obligatorisch der Pensionskasse angeschlossen. Ausgenommen sind befristete Arbeitsverhältnisse bis zu drei Monaten.
Im AHV-Alter sehen die meisten Pensionskassen aktuell eine freiwillige Weiterversicherung bis längstens 69 für Frauen und bis 70 für Männer vor. Das erhöht das Alterskapital und meist auch den Umwandlungssatz für die Pensionskassenrente. Weiterzuarbeiten und die Rente oder das Alterskapital ganz oder teilweise zu beziehen, ist in der Regel ebenfalls möglich. Aber: Wer sich erst im AHV-Alter selbständig macht, kann sich keiner Pensionskasse mehr anschliessen.
Versicherungslücken schliessen
Arbeitet jemand wie Hans Frei über das ordentliche Pensionsalter hinaus, müssen vom Einkommen über 16 800 Franken pro Jahr und Arbeitgeber weiter AHV-Beiträge bezahlt werden. Die Rente wird damit aber nicht höher. Hans Frei hat dies nie sonderlich gestört: «Ich sehe es als Solidaritätsbeitrag.» Er bezieht eine maximale AHV-Rente.
Die AHV-Reform 21, die am 1.1.2024 in Kraft trat, nützt nun zumindest Personen mit Versicherungslücken. Neu sind die nach dem Alter 65 eingezahlten Beiträge «rentenbildend», bis die Maximalrente erreicht ist. Mehr gibt es nicht. Vor allem für Versicherte mit fehlenden Versicherungsjahren wird so das Weiterarbeiten über das ordentliche Rentenalter hinaus finanziell attraktiver. Zudem können Versicherte mit der Reform neu wählen, ob sie den Freibetrag von 16 800 Franken im Jahr beanspruchen. Oder ob sie die AHV-Beiträge auf alle Einkünfte bezahlen, um Versicherungslücken zu schliessen.
Bisher sind alle politischen Vorstösse gescheitert, welche die AHV-Pflicht auf Erwerbseinkommen von berufstätigen Rentnerinnen und Rentnern abschaffen oder deren Besteuerung senken wollten.
Durch die Reform wird das Rentenalter der Frauen schrittweise auf 65 Jahre angepasst. Erstmals erhöht wird diese Schwelle per 1.1.2024 für den Jahrgang 1961, und zwar um drei Monate. Frauen der sogenannten Übergangsgeneration von 1961 bis 1969 erhalten je nach Jahrgang und Einkommen einen abgestuften Zuschlag auf ihre AHV-Rente. Ab 2028 gilt dann für Frauen und Männer das gleiche Rentenalter.
Aktuell beziehen 88 Prozent der Versicherten ihre AHV-Rente ab ordentlichem Pensionsalter; 9 Prozent wählen einen früheren Bezug, und lediglich 3 Prozent schieben ihre Rente auf. Vorbezug bedeutet eine lebenslang gekürzte Rente, Aufschub eine entsprechende Erhöhung. Die AHV-Rente, die um volle fünf Jahre aufgeschoben wird, fällt um 31,5 Prozent höher aus. Die erste Rente können Versicherte heute im Alter 62/63 und 69/70 abrufen. Dies muss bei der AHV-Kasse angemeldet werden.